„Bewusstlos“ – blutiges Erwachen…
Raffael ist ein junger Mann Ende 20, der schon seit Jahren
keinen Kontakt zu seinen Eltern mehr hat: durchs Leben schlägt er sich mehr
oder minder mit Aushilfsjob; aktuell arbeitet er als Techniker an einem
Berliner Theater. Unterschlupf hat er bei einer lieben, älteren Dame gefunden,
die ihm ein Zimmer in ihrer für sie zu gross gewordenen Wohnung untervermietet
hat…
Doch Raffael ist unberechenbar, was auch seiner Vermieterin
immer deutlicher wird: er neigt zu extremen Stimmungsschwankungen, zu
Wutausbrüchen, auf die unmittelbar die beste Laune folgt. Und Raffael ist
gefährlich: so wacht er morgens mit blutverschmierten Klamotten, aber
unverletzt auf, und kann sich an nichts mehr erinnern… Als er zufällig bemerkt,
dass seine Vermieterin sehr viel Geld in der Wohnung verwahrt, wird er
teuflisch…
Zudem entdeckt er via Internet, dass seine Eltern inzwischen
einen Gastbetrieb in der Toskana führen und seine Wut wird immer grösser: denn
fühlte er sich immer schon von seinen Eltern im Stich gelassen, hat er nun erst
recht das Gefühl, dass sie fortgegangen sind, ohne an ihn zu denken.
Und so bricht er auf in die Toskana…. Wo er sich auch schon
bald unverletzt, blutverschmiert und erinnerungslos wiederfindet.
„Bewusstlos“: Latti hat`s gelesen!
Der Roman beginnt mit Christine, Raffaels Mutter, die einem
vom Gericht bestellten Psychiater von ihrem früheren Familienleben erzählt, von
der Zeit bis zum „Bruch“ mit Raffael: dem Leser wird hier bereits klar gemacht,
dass „Bewusstlos“ auf ein sehr tragisches Ende zulaufen wird, nicht zuletzt
eben dadurch, dass Christine sich eben auf Geheiss eines Gerichts mit diesem
Mediziner unterhält.
Nachdem Christine ihren „Bericht“ über Raffaels Kindheit
beendet hat, ist man sich zudem klar, dass Raffael schwer traumatisiert ist,
bevor die Perspektive wechselt: nun ist man bei Raffael in Berlin; bei seiner
Vermieterin, die einen Untermieter suchte und ihn in Raffael gefunden hat… Als
Leser begleitet man Raffael quasi von seinem Einzug bis zu seiner Reise zu den
Eltern in die Toskana.
Der Klappentext von „Bewusstlos“ klingt nun sehr dramatisch
und hochgradig spannend: dort wird nur darauf hingewiesen, dass Raffael morgens
voller Blut erwacht, an sich keine Verletzungen feststellt, und absolut kein
Erinnerungsvermögen daran besitzt, was zuvor geschehen ist, wo das Blut
herkommt. Diese Kurzbeschreibung klang für mich zunächst danach als sei der
Leser hier quasi ständig an Raffael Seite und würde mit ihm gemeinsam nach und
nach aufdecken, was der blutige Hintergrund ist. Pustekuchen: als Leser weiss
man immer Bescheid; man weiss, was geschehen ist, wessen Blut an Raffael klebt
– und wie gemeingefährlich Raffael ist.
Für den Leser ist „Bewusstlos“ also wenig überraschend:
manchmal fliessen noch weitere tragische Details aus Raffaels Kindheit und
Jugend ein (Dinge, die Christine nicht wusste und von daher anfangs auch nicht
erzählen konnte), die noch für etwas mehr Dramatik sorgen und bewirken, dass
man Raffael nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer, sieht.
Insgesamt ist „Bewusstlos“ aber eher mit einem Rennen gen
Abgrund zu vergleichen: hier besteht die Spannung letztlich darin, dass man als
Leser wissen möchte, ob vor dem Abgrund gestoppt werden kann oder nicht und wer
letztlich eventuell noch alles mit hinuntergerissen wird. Dass Raffael verloren
ist, bleibt während des gesamten Romans offensichtlich: für mich war schon sehr
früh klar, dass Raffael entweder geschnappt (gestoppt) wird und ins Gefängnis
oder noch wahrscheinlicher die Psychiatrie kommt oder aber dass alles mit dem
Tod enden würde.
Hierin lag dann auch die Spannung versteckt, denn anfangs
lernt man lediglich eine Frau kennen, die von einem längst zurückliegenden
Familienleben erzählt: man weiss also während des Lesens, dass Christine in
jedem Fall überlebt hat, aber man weiss bis zuletzt nicht, was aus den anderen
Familienmitgliedern geworden ist. Lebt Raffaels Vater noch, hat er seiner
kleinen Schwester etwas angetan, lebt Raffael noch, sitzt er ein, ist er
womöglich geflohen…? Dass Raffael letztlich eventuell auch hätte fliehen
können, lag natürlich auch noch in der Leseluft: allerdings habe ich persönlich
nun keinen Gedanken daran verschwendet, dass er davonkommen könnte – zu
drastisch wurde er geschildert, zu brutal und unberechenbar; ich wollte einfach
nicht daran denken, dass man ihn hätte davonkommen lassen müssen.
„Bewusstlos“ ist ein sehr dunkler Roman; Raffael ist von Wut
und Depressionen durchwirkt, aber auch die interessanteste Figur im gesamten
Roman, der man, je mehr man aus seiner Vergangenheit erfuhr, doch auch mit
immer mehr Verständnis begegnete. Christine, seine Mutter, hingegen blieb eine
eher farblose, vom Leben gezeichnete Frau, die sich auch ihrem Mann gegenüber
sehr unterwürfig verhielt. Karl, Raffaels Vater, hingegen besass eine sehr
unangenehme Dominanz: man meinte zu erkennen, dass Christine ohne ihn sehr viel
mehr Stärke zeigen könnte und fragte sich ständig, warum Christine eigentlich
an ihrem Mann festhielt. Das Verhältnis der Beiden zueinander erinnerte dann
doch mehr an eine freundschaftlich geprägte Zweckgemeinschaft als an seit
Jahrzehnten miteinander verbundene Eheleute. Insgesamt fand ich Raffael nun
nicht nur die mit Abstand interessanteste Figur in „Bewusstlos“, sondern ich habe
seit Langem von keiner so vielschichtigen, zwiegespaltenen Hauptfigur gelesen. Wer
sich gerne psychologisch betätigt, dem wird hier zweifelsohne sehr viel zum Beobachten
und Analysieren geboten!
Ich habe den Roman (den ich mir auf zwei Abende aufgeteilt
habe) sicherlich sehr gerne gelesen und auch die erwartete gute Unterhaltung
geboten bekommen, aber ich habe an „Bewusstlos“ doch auch noch das ein oder
andere Detail auszusetzen: das Romanende war mir zu sehr Holzhammer-Methode.
Der Schluss hatte für mich tatsächlich etwas von „ich muss das jetzt unbedingt
ganz schnell zu Ende bringen“; es war tatsächlich wie der Abgrund, auf den
ungebremst zugerast wird: abgestürzt und aus.
Sabine Thiesler lässt die Figuren ihrer Geschichten
bekanntlich gerne in die Toskana abwandern (wobei man sagen muss, dass hier
doch ein erstaunlich grosser Teil der Geschichte in Deutschland spielt) und
natürlich stösst man auch hier wieder auf den altbekannten italienischen
Polizisten Neri, den ich eigentlich ganz gerne mag und dessen italienische
Familiengeschichten immer etwas Auflockerung bieten. Allmählich ist es mir aber
doch zuviel Neri: da ist dieser arme Polizist nun in der toskanischen Einöde
und stösst dort ständig (also in jedem Thiesler-Buch) auf deutsche Einwanderer,
die (Serien)Mörder im Schlepptau haben. Dass muss dem doch allmählich auch
seltsam vorkommen?!
In „Bewusstlos“ störte mich aber ein Berliner Hausmeister noch
viel mehr: dieser geht dort den Anordnungen des Hausbesitzers bzw. des
Vermieters nach und wird von Raffael aufgefordert, sich diesen Anordnungen zu
widersetzen bzw. das genaue Gegenteil zu tun. In diesem Zusammenhang prügelt
Raffael den Hausmeister letztlich grün und blau und der kommt kurz darauf
wieder und tut all das, was er von Raffael aufgetragen bekommen hat?! Über
diese Stelle komme ich einfach nicht hinweg: warum hat er nicht die Polizei
informiert, warum nicht den Vermieter, wieso ist er tatsächlich wiedergekommen,
um Raffaels „Wünschen“ Folge zu leisten? Wer lässt sich denn derart vermöbeln,
um später die Kellerlampe seines Peinigers zu reparieren? Ich gebe zu: das
Verhalten dieses Hausmeisters hat mich doch sehr irritiert und erschien mir so
seltsam, dass ich diese kurze Episode auch weiterhin beim Lesen nicht vergessen
konnte und sie im Verlauf der weiteren Handlung zudem noch so ein „Hätte der
Idiot da doch einfach mal den Mund aufgemacht, dann wäre es jetzt erst gar
nicht so weit gekommen“-Gschmäckle bekam.
Hätte man den Hausmeister herausgestrichen und das Ende noch
etwas mehr entzerrt, würde mich Sabine Thieslers „Bewusstlos“ restlos
begeistert haben. Wer einen Thriller mit einem facettenreichen, psychologischen
Hintergrund sucht, ist hier aber nichtsdestotrotz bestens bedient.
Für mich ergeben sich aus „Bewusstlos“
8 von 10 Rauschmitteln.
„Bewusstlos“, Sabine Thiesler / Verlag: Heyne / ISBN-10: 3453268067 / ISBN-13: 978-3453268067 / 512 Seiten / 19,99€
(gebundene Ausgabe) / ebook-Preis: 15,99€
Preise (vom 21.01.2013) in der Schweiz: ex libris – CHF
22,80 (gebunden); CHF 13,25 (ebook) / Thalia – CHF 28,50 (gebunden); CHF 19,40
(ebook) / Weltbild – CHF 28,50 (gebunden); CHF 19,90 (ebook)
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