Mittwoch, 3. Oktober 2012

J.K. Rowling: "Ein plötzlicher Todesfall"

Letzte Woche erschien J.K. Rowlings erstes, extra als solches deklariertes Buch für Erwachsene mit dem doch recht unspektakulären Titel „Ein plötzlicher Todesfall“: jener Roman wurde zuvor stark beworben und jeder Buchhändler quasi mit dem Tod durchs Schafott bedroht, der es wagen sollte, die Bücher vor 9 Uhr am Tag der Veröffentlichung feilzubieten. Die Übersetzungsarbeiten wurden streng gesichert; ich glaube, man hat die Übersetzer allesamt in eine Art „Big Brother“-Container (nur ohne das ganze Show-Gedönse) geschmissen und ohne Kontakt zur Aussenwelt dort arbeiten lassen und sie bis zur Veröffentlichung von „Ein plötzlicher Todesfall“ gefangengehalten.

In Grossbritannien wurden trotz alles vorsorglich betriebenen Medienrummels in den Wettbüros Wetten platziert, dass sich Frau Rowling in der Erwachsenenliteratur nicht durchsetzen kann und „Ein plötzlicher Todesfall“ zum Totalflop werden würde: kaum jemand wollte dagegenhalten.

Ich hatte nun noch nie etwas von Frau Rowling gelesen; nein, ich kenne keinen einzigen Teil der „Harry Potter“-Reihe. Zum Einen ist Fantasy nicht grad mein Lieblingsgenre und zum Anderen hasse ich Fortsetzungszeugs: ich will wenn dann doch eher gleich die komplette Geschichte. Aber „Ein plötzlicher Todesfall“, keine Fantasy, keine Fortsetzung geplant, von der mir bislang unbekannten Joanne K. Rowling, die immerhin derzeit wohl noch die einflussreichste, noch lebende Schriftstellerin überhaupt ist: ja, das wollte ich dann doch mal lesen. Ganz vorurteilsfrei trotz aller Wetten gegen das Buch. Nee, nicht ganz. Mit dem einen Vorurteil: von einer Erfolgsautorin geschrieben.


"Ein plötzlicher Todesfall"

Pagford ist eine kleine, idyllische Gemeinde in England: nein, stop, laut einigen Einwohnern könnte Pagford die pure Idylle sein – wäre da nicht Fields. Fields ist vor Jahren aufgrund einer Verschiebung der Gemeindegrenzen vom Randbezirk der Nachbarstadt Yarwil zum (ungeliebten) Vorort von Pagford geworden. Denn Fields ist das, was man heutzutage als sozialen Brennpunkt bezeichnen würde und viele Pagfordianer würden nur zu gerne zu den alten Gemeindegrenzen zurückkehren, nur um Fields wieder loszuwerden.

Gemeinderatsmitglied Barry Fairbrother, der in Fields aufgewachsen ist, hat sich zum anerkannten Pagfordianer hochgearbeitet: er ist sehr beliebt in Pagford und vor Allem ist er sehr engagiert. Dabei setzt er sich insbesondere für Fields ein und dafür, dass Fields Teil von Pagford bleiben soll. Dennoch: viele Bürger Pagfords sind sich sicher, dass Barry Fairbrother die eine löbliche Ausnahme unter den Fields`ern ist… Der Gemeinderat ist gespalten, nur dank Barry Fairbrother neigt sich die Waagschale doch noch etwas mehr gen Fields.
Doch Barry Fairbrother erliegt einem plötzlichen Tod – und sein Platz im Gemeinderat muss neu besetzt werden. Ohne Fairbrother sind die Fields-Befürworter stark geschwächt und die Fields-Gegner sehen ihre grosse Chance gekommen…

Aber der Wahlkampf artet aus: von allen Seiten werden dunkle Geheimnisse der Kandidaten und der bereits gewählten Gemeinderäte enthüllt… Die Bürger Pagfords werden auf drastische Weise damit konfrontiert, dass sie kaum heiliger als die Einwohner Fields` sind, aber an echter Einsicht mangelt es bis zuletzt…

"Ein plötzlicher Todesfall": Latti hat`s gelesen

„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“? Mitnichten: im doch sehr gesellschaftskritischen „Ein plötzlicher Todesfall“ zählen die Figuren lieber die geworfenen Steine und hoffen, dass wer anders noch häufiger als sie getroffen worden ist.

„Ein plötzlicher Todesfall“ erzählt eine sehr zermürbende Geschichte, bei der sich vor Allem die erwachsenen Figuren ständig im Kreis drehen: sie haben ihre festen Meinungen und auch ihre festgezurrten Feindbilder. Sie sind absolut verblendet: werden ihre Geheimnisse verraten, sind sie sogleich sicher, welcher Erzfeind geplaudert haben muss – obschon die betreffenden Dinge allenfalls ihrer Familie bekannt sind.

Eine grosse Rolle spielen im Rowling-Roman „Ein plötzlicher Todesfall“ die Kinder: obschon sich alle einig sind, dass es in Pagford im Gegensatz zu Fields sehr viel gesitteter zugeht und hiesig Moral und Anstand vorherrschen, dass die Kinder von Pagford allesamt aus gutem Haus stammen, erkennen die Kinder die Lügen in den Leben ihrer Eltern und fühlen sich gar nicht so wohlbehütet. Die Schule in Pagford, die mitunter auch von Schülern aus Fields besucht wird, eröffnet den Pagford-Kindern den Blick in eine komplett andere Welt und auch wenn sie die sichere Umgebung Pagfords schätzen, werfen sie doch teils sehnsüchtige Blicke auf den rauhen, aber ehrlichen Umgang, den die Einwohner von Fields miteinander pflegen.

Als Leser weiss man, wer die Geheimnisse der Gemeinderäte bzw. der Kandidaten aufdeckt: es sind immer die Kinder der jeweils betroffenen Person. Aber ich konnte es in allen Fällen nachvollziehen und sah es nie als „Verrat“ oder „Mangel an Loyalität“ an, denn überall wurde das Bild der „heilen Familie“ nach aussen hin geprägt, aber innen: da gab es extreme häusliche Gewalt, dort wurde dem Sohn klar übermittelt, dass er alles Andere als ein Wunschkind sei und an noch anderer Stelle wurde einem Mädchen vorgehalten, nicht so intelligent und zielstrebig wie ihre Geschwister zu sein… Sprich: es gab Leute, die meinten, Fields sei verloren; es gab Leute, die meinten, man dürfe Fields nicht verlorengeben und man müsse den Leuten Chancen bieten, aber es gab überhaupt keine Leute in Pagford, die sich um ihre eigenen Kinder kümmerten.

Der Wahlkampf sowie die ganze Lokalpolitik wurden auf dem Rücken der eigenen Familien ausgetragen.
Besonders tragisch ist das Ende von „Ein plötzlicher Todesfall“, als es tatsächlich Opfer unter den Kindern gibt – die vermieden hätten werden können, denn die erwachsenen, verantwortlichen Bürger Pagfords gingen in ihre eigenen, egoistischen Gedanken vertieft an der Gefahr vorbei…

Ich fand „Ein plötzlicher Todesfall“ nun schwer zu lesen: das erste Drittel des Romanes wird darauf verwandt, die Figuren vorzustellen. Prinzipiell wird die gesamte Handlung von nur einer Handvoll Familien bestritten, aber anfangs ist es doch sehr anstrengend, sich zu merken, welche Person nun zu welcher Familie gehörte… Zudem erschienen mir die erwachsenen Figuren allesamt sehr blass und austauschbar, sie wurden allesamt sehr oberflächlich geschildert (teils konnte man nur aus Erzählungen etc. ihrer Kinder erahnen, wie sie wirklich waren) und auch, wenn sie teils gänzlich voneinander abweichende Meinungen vertraten, waren sie prinzipiell doch alle gleich: in ihren Meinungen festgefahren, verbohrt, und voller Geheimnisse…
Die Kinder empfand ich als deutlich klarer skizziert und sie hoben sich auch viel deutlicher voneinander ab: da war noch ein gewisser Individualismus erkennbar: die Erwachsenen habe ich letztlich immer über die Kinder zugeordnet.

Insgesamt bin ich aber sehr naiv an „Ein plötzlicher Todesfall“ herangegangen: ich hatte mich zuvor kaum über das Buch informiert. Ich wusste lediglich, dass es Joanne Rowlings erstes Buch abseits von Fantasy ist und dass es ihr erstes Werk für Erwachsene ist. Ich hatte gute Unterhaltung erwartet, die mir eine spannende Geschichte vor einem vielleicht ernsten Hintergrund erzählen würde. Am Tag, bevor „Ein plötzlicher Todesfall“ erschienen ist, ist der Thriller „Abgeschnitten“ von Sebastian Fitzek und Michael Tsokos veröffentlicht worden: diesen hatte ich hier bereits vorgestellt und dabei hervorgehoben, dass ich „Abgeschnitten“ quasi am Stück gefressen hatte. Danach war ich sehr euphorisch und überzeugt, dass ich das mit „Ein plötzlicher Todesfall“ genauso hinbekommen würde; im Blog hatte ich immerhin auch schon erwähnt, dass ich für Samstag die Veröffentlichung der Rezension zu „Ein plötzlicher Todesfall“ geplant hätte. Ich habe seit dem Erscheinen von „Ein plötzlicher Todesfall“ täglich darin gelesen: gestern abend, also am Dienstag, hatte ich ihn nun erst ausgelesen.

Wie gesagt: das erste Drittel fand ich einfach anstrengend, weil man dort mit sehr vielen Figuren bekanntgemacht wurde, die doch eh alle gleich waren und das zweite Drittel bestand hauptsächlich aus „Wählt mich und nicht den“-„Nein, der ist doof; wählt mich!“-Geplänkel. Ich fand es sterbenslangweilig und habe nach der Hälfte des Romans auch überlegt, ob ich ihn nicht doch abbrechen soll. Aber so leicht mache ich es mir ja selten: die Handlung nahm dann auch langsam an Fahrt auf, aber wirklich interessant und spannend fand ich nun nur das letzte Viertel des Romans.
                   
Ich habe inzwischen aber häufiger vernommen, dass „Ein plötzlicher Todesfall“ für die drastische Ausdrucksweise kritisiert wird: die fand ich nun gar nicht so enorm übel. Ja, es fällt sehr oft das F-Wort, aber ich fand nun nicht, dass es übertrieben oft oder an falschen Stellen erwähnt wurde. Albern wäre es eher gewesen, wenn man beispielsweise wütende Jugendliche hier ohne Flüche geschildert hätte: in dem Fall wäre es nicht glaubwürdig gewesen… Oder ist man hier nur entrüstet, dass eine Frau Rowling, die in der Vergangenheit schon Grundschulkinder zum Lesen gebracht hat, tatsächlich „böse“ Ausdrücke kennt?

Insgesamt muss „Ein plötzlicher Todesfall“ aber gaaaaaanz anders als „Harry Potter“ sein. Nicht nur von Genre und Handlung, sondern auch in Bezug auf die Erzählweise und den Stil. „Ein plötzlicher Tod“ erzählt zwar eine prinzipiell interessante Geschichte und eigentlich bin ich für Sozialkritik immer gern zu haben, aber hier ist die Handlung an vielen Stellen einfach unnötig langgezogen. Da gibt es sehr viele andere Schriftsteller, die Gesellschaftsdramen deutlich interessanter, spannender und unterhaltsamer erzählen können. Sorry, aber ich fand diesen Rowling-Roman zum grössten Teil einfach total öde. Deswegen muss „Harry Potter“ ganz anders sein: kaum ein Kind hätte da noch zig Fortsetzungen lesen wollen, wenn „Harry Potter“ auch so fad angefangen hätte. Jedes Mal, wenn der Fokus bei „Ein plötzlicher Todesfall“ von einer erwachsenen Figur hin zu einem Jugendlichen hin wechselte, atmete ich innerlich auch kurz auf und dachte: „Frau Rowling, offensichtlich haben Sie es eher mit den minderjährigen Figuren; vergessen Sie das mit den erwachsenen Protagonisten!“ Wie gesagt, der Nachwuchs bei „Ein plötzlicher Todesfall“ war sehr viel deutlicher charakterisiert…

Was bleibt, ist eine ziemliche Enttäuschung…. Nach dem zweiten Drittel war ich mir eigentlich sicher, dass ich nicht mehr als 4 (von 10) Rauschmitteln vergeben könnte. Nachdem ich „Ein plötzlicher Todesfall“ nun ausgelesen und nochmals darüber nachgedacht hatte, gestand ich mir aber doch ein, dass das Sozialdrama, welches hier erzählt wird, eigentlich sehr interessant ist und dem Leser hier tatsächlich etwas vermittelt und er nicht nur unterhalten werden soll. Aber: ich fühlte mich ja auch kaum unterhalten; in diesem Fall fand ich die Erzählung einfach nur schlecht und absolut lieblos umgesetzt.

Dennoch: weil „Ein plötzlicher Todesfall“ eben doch ein kleines bisschen zum Nachdenken anregt und eine Botschaft enthält, packe ich noch zwei Rauschmittel obenauf. Lesen muss man`s meiner Meinung nach aber eigentlich wirklich nicht… Theoretisch reicht es auch, mal auf sich und direkt neben sich zu schauen statt immer nur darauf zu lauern, was irgendwer dahinten schräg gegenüber die Strasse runter treibt, um sich mit dem darüber zu streiten. Oder halt auch mal die Steine zu verstecken, damit keiner damit schmeissen kann. Oder einfach mal mit wem reden anstatt mit einem Dritten über denjenigen zu tratschen.

Insgesamt hinterlasse ich hier also 6 von 10 Rauschmitteln. 


Buch-Info

„Ein plötzlicher Todesfall“, Joanne K. Rowling / Carlsen / ISBN-10: 3551588880 / ISBN-13: 978-3551588883 / 576 Seiten / 24,90€ (gebundenes Buch) / ebook-Preis: 19,99€
Preise (vom 03.10.2012) in der Schweiz: ex libris – CHF 24,85 (Printbuch); CHF 22,90 (ebook) / Thalia – CHF 29,90 (Printbuch); CHF 30,20 (ebook) / Weltbild – CHF 24,90 (Printbuch); CHF 19,95 (ebook)

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