Samstag, 20. Oktober 2012

Katherine Webb: "Das Haus der vergessenen Träume"

Vor 100 Jahren sah die Welt noch ganz anders aus: damals war sie noch längst nicht von der Technik beherrscht. Damals herrschten noch die Männer und die Suffragettenbewegung kämpfte in England erbittert für das Frauenwahlrecht: vor ein paar Tagen erschien nun mit „Das Haus der vergessenen Träume“ von Katherine Webb ein Roman, der eine Geschichte erzählt, die weitgehend in just dieser damaligen Zeit spielt…


"Das Haus der vergessenen Träume"

Die freie Journalistin Leah wird von ihrem Ex-Freund Ryan, der dort für die Kriegsgräberfürsorge arbeitet, nach Belgien gerufen: bei einem unbekannten toten Soldaten fand man einige mysteriöse Briefe, die diesem offenbar sehr wichtig waren.
Aufgrund dieser Briefe macht sich Leah auf den Weg in eine kleine englische Ortschaft, aus der die Verfasserin offensichtlich stammt, um einerseits die Identität des Toten festzustellen und um andererseits die Geschichte hinter den Briefen aufzulösen…

Parallel dazu wird das Leben im Hause des Pastoren-Ehepaars Canning zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschildert; hier steht vor Allem das neue Hausmädchen Cat Morley im Vordergrund, welches nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis von den Cannings als Zeichen der Nächstenliebe aufgenommen worden ist. Cat ist sehr emanzipiert und selbstbewusst, wenn auch noch geschwächt und traumatisiert vom Gefängnisaufenthalt: im Allgemeinen weigert sie sich, ihre gesellschaftliche niedere Stellung zu akzeptieren und vertritt ihre Meinung bezüglich Gleichberechtigung auch sehr konsequent.

Pfarrer Albert Canning ist der Theosophie sehr zugetan und nachdem er einen Vortrag von ihm besucht hat, lädt er den jungen Theosophen Robin Durrant ein, einige Zeit im Hause Canning zu verbringen – nicht zuletzt, da der Pfarrer überzeugt ist, bei einem seiner frühmorgendlichen Spaziergänge auf einer der benachbarten Wiesen tatsächlich Naturgeister gesehen zu haben.  Nach Durrants Einzug widmet der Pfarrer sich hauptsächlich seinem Gast, dessen Theorien, den Lehren der Theosophie und entwickelt einen gewissen Fanatismus darin, Durrant in seinen Forschungen zu unterstützen.
Seine Ehefrau Hester fühlt sich immer vernachlässigter und ungeliebter: Bereits vor Robin Durrants Ankunft waren ihr Gatte und sie eher Bruder und Schwester als Mann und Frau. Zärtlichkeiten werden von Albert Canning stets zurückgewiesen; auch ein Jahr nach der Hochzeit haben sie noch nie miteinander geschlafen und die sexuell absolut unbedarfte Hester sehnt sich nach eigenen Kindern… und nun erlebt sie, wie ein anderer Mann ihren Gatten in Verzückung geraten lässt und wie Albert sich immer mehr in die Thematik der Naturgeister verrennt… und sie ist nicht die Einzige, die Robin Durrant (und seinen Elfen) kritisch gegenübersteht…

"Das Haus der vergessenen Träume": Latti hat`s gelesen! 

„Das Haus der vergessenen Träume“ ist ein wunderbares Buch: ich bin Romanen, die Geschichten aus der nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit erzählen, ohnehin sehr zugetan. Ich habe meine Urgrosseltern noch gekannt und freue mich immer, wenn ich Geschichten lesen kann, die Anfang des 20. Jahrhunderts spielen: eine Zeit voller Umbrüche und eine Zeit, die meine Urgrosseltern ganz bewusst miterlebt haben… Solche Sentimentalisten wie ich sollten  Katherine Webbs „Das Haus der vergessenen Träume“ unbedingt lesen!

Vornehmlich wird hier die damalige Geschichte rund um die Cannings erzählt: dies erfolgt im Präsens. Das „Heute“ wird hingegen in der einfachen Vergangenheitsform erzählt, wodurch die Zeit des Jahrhundertwechsels quasi wieder zum Leben erweckt wird. Diese Erzählung wird nur ab und an von Leahs Recherchen unterbrochen, was den Lesefluss einerseits zwar nicht unbedingt stört, aber andererseits bin ich der Meinung, dass die Jetzt-Geschichte um Leah relativ unnötig ist: Dem „Haus der vergessenen Träume“ würde auch nichts fehlen, hätte man lediglich vom Leben des Pfarrerpaares Canning erzählt.

Die Geschichte rund um die Cannings ist sehr traurig, nicht zum Weinen traurig, sondern eher fassungslos-traurig. So wird dem neuen Hausmädchen Cat im Ort mit argem Misstrauen begegnet: es ist bekannt, dass Cat frisch aus der Haft entlassen worden ist, aber das Ehepaar Canning weigert sich zu sagen, warum Cat im Gefängnis war, da sie der Meinung sind, so könne es keine Vorurteile geben. Aber obschon Cat nur kurz im Gefängnis war und aufgrund der Länge der Haftzeit kaum einen Mord begangen haben kann, brodelt die lokale Gerüchteküche natürlich gleich gewaltig…
Ohnehin ist Cat eine sehr tragische Figur: wie dem Leser schnell klar wird, war sie inhaftiert worden, weil sie sich politisch engagierte und für das Wahlrecht der Frauen starkmachte. Sie ist eine junge Frau, die für ihre Überzeugungen einsteht, aber kaum beachtet wird, da sie der Unterschicht angehört und aufgrund ihres gesellschaftlichen Status auch ausgeschlossen wird. Dabei sind ihr höher gestellte Frauen, wie auch Hester Canning, weitaus weniger informiert als sie, was das aktuelle Zeitgeschehen und mitunter auch das ganz normale Leben, anbelangt. Beispielsweise fragt Hester Canning ihre Schwester in einem Brief, wie man sich denn das gemeinschaftliche eheliche Beisammensein vorstellen müsste, welches ihr Mann ihr augenscheinlich verweigert. Auch in Gesprächen mit ihrem Mann thematisiert Hester das Thema eher oberflächlich, während Cat generell zur Direktheit neigt.

Ich fand Cat ungemein sympathisch: sie war zwar mitunter etwas derb, aber sie verbog sich nicht. Zudem kämpfte sie damals für die Rechte der Frauen, die wir heute als selbstverständlich ansehen, und wurde dafür von allen Seiten verurteilt; beim Lesen möchte man sie zuweilen manchmal fast in den Arm nehmen und ihr tröstend mitteilen, dass die Frauen den Kampf um ihre Rechte gewonnen haben – wenn man nur sicher sein könnte, dass sie nicht kratzbürstig reagieren würde.

Ich habe schon einige Suffragetten-Geschichten gelesen, aber in jenen stammten die Kämpferinnen zumeist aus höheren Gesellschaftsschichten und mussten sich allenfalls gegen die konservativen Ansichten ihrer Mütter auflehnen. Da war es nun ganz interessant, auch mal etwas aus der Zeit der Suffragetten-Bewegung zu lesen, was ein armes Hausmädchen betraf.

Die Figur der Hester Canning kam mir hingegen sehr weltfremd vor: so wusste sie zwar um die Suffragetten-Bewegung, weigerte sich aber, deren Ansichten auch nur mal kurz zu überdenken, weil sich ihrer Meinung nach schon der Gedanke an das Frauenwahlrecht nicht schickte. Aber vor Allem das mangelnde sexuelle Interesse ihres Mannes irritierte sie so sehr, dass ich, auch angesichts der Tatsache, dass sie sich unter Sex nichts vorstellen konnte, häufig nur dachte: „Nun benutz endlich dein Gehirn, das ist doch zum Denken da!“. Denn für den Leser wird es relativ schnell deutlich (zumal auch einige Tagebucheinträge Alberts in die Handlung verwoben sind), dass Albert dem eigenen eher als dem anderen Geschlecht zugetan ist.
Dies wurde zwar im gesamten Buch nicht ein Mal offen kommuniziert, aber die Hinweise sind eindeutig und werden nur von Hester nicht richtig gedeutet: für Cat ist es relativ offensichtlich, dass der Pfarrer schwul ist.

Hier merkte man dann auch einmal mehr die Kluft zwischen den Frauen, die prinzipiell beide nur das Glück suchten: Hester das Glück an der Seite ihres Mannes, Cat das Glück, auf eigenen Beinen zu stehen.
Bereits am Anfang wird von Hester in ihren Briefen angedeutet, dass sie ein dunkles Geheimnis unter den Dielenbohlen versteckt hat… Es klingt nach Beweismitteln oder gar einer Leiche. Dieses „Verbrechen“ zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und wird erst am Schluss aufgeklärt. Bis dahin fragte ich mich: was oder wer liegt denn da? Auch die Identität des toten Soldaten wird erst am Ende aufgeklärt; bis dahin musste ich schon überlegen, ob der Pfarrer später im Krieg gefallen ist, ob Robin Durrant zur Armee gegangen und im Krieg gestorben ist oder ob vielleicht noch ein weiterer Mann auf der Bildfläche erscheinen würde.

Dadurch behielt „Das Haus der vergessenen Träume“ auch immer eine gewisse Spannung: es war nun nicht schockend-spannend, aber interessant-spannend. Die ganz grosse Aufregung wollte aber auch in mir nun nicht aufkeimen; ich war eher neugierig auf die schlussendliche Auflösung. Welches Verbrechen sich dann aber tatsächlich hinter dem Versteck unter dem Fussboden verbarg, hat mich dann doch überrascht: das war nichts, mit dem ich in dieser Form gerechnet hätte.

Ich konnte „Das Haus der vergessenen Träume“ zwischendurch zwar durchaus aus der Hand legen, freute mich dann aber auch immer wieder auf den weiteren Fortgang der Geschichte, wenn ich wieder zum Lesen kam.

„Das Haus der vergessenen Träume“ würde ich nun eher als Familiendrama zur Zeit der Jahrhundertwende (19./20. Jahrhundert) inklusive Sozialkritik bezeichnen, gepaart mit einem Hauch Kriminalroman. Insgesamt ist dies eher ein Buch der leiseren Töne und in jedem Fall ein Roman, den ich weiterempfehlen und auch verschenken würde!

Ich vergebe 7 von 10 Rauschmitteln!  


Buch-Info

„Das Haus der vergessenen Träume“, Katherine Webb / Diana-Verlag / ISBN-10: 3453357159 / ISBN-13: 978-3453357150 / 528 Seiten / 9,99€ (Taschenbuch) / ebook-Preis: 8,99€
Preise (vom 20.10.2012) in der Schweiz: ex libris – CHF 11,90 (Printbuch); CHF 10,90 (ebook) / Thalia – CHF 14,90 (Printbuch); CHF 10,90 (ebook) / Weltbild – CHF 14,90 (Printbuch); CHF 10,90 (ebook)

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